(Eine Annäherung von Nadia Veronese an das Schaffen von Liz Gehrer anhand von Werkstiteln)
Geisterhaft schwebend formiert sich eine Figurengruppe vor unzähligen liegenden und gestapelten Papierrollen. Gleichsam entrückt scheinen die Gestalten sich ihres Ursprungs vergewissern zu wollen.
DU DENKST ZU SCHIEBEN, UND WIRST GESCHOBEN: so der Titel der aus Eisen, Karton und Zeitung gehärteten Skulptur. Du denkst zu entscheiden, und wirst manipuliert…
Ausgangspunkt im dreidimensionalen Schaffen von Liz Gehrer ist Papier, sei es in Form von geschreddertem Zeitungspapier oder in gepresster Form als Karton. Beides ist in der eingangs erwähnten Skulptur vereint: Material, das, sobald mit Wasser und Kleister bearbeitet, sich in Form bilden lässt, und sobald an der Luft getrocknet, verhärtet und starr resultiert. Die stark abstrahierten Menschengestalten sind auf Kopf, Rumpf und vereinte Gliedmassen reduziert, die vertikale Linie bewusst ausgeprägt. Die das Eisenskelett umspannende Aussenhaut der Figuren lässt durch die Oberflächenstruktur auf das jeweils verwendete Material schliessen: Spröde, bedruckte Zeitungsfetzen bei den einen, gerillte, aufgeschlitzte, nachträglich bemalte Wellpappe bei den andern. Den Kopf zu-, manchmal auch abgewandt, scheinen die Menschengestalten inmitten einer Kommunikation in immanenter Gestik zu verharren. Gemeinsame Kommunikation verdrängt durch öffentliche Kommunikation – Dialog und Verstehen verdrängt durch Informationsvermittlung und Manipulation: Gleichsam durch das verwendete Zeitungspapier aufgedrängt und aufgezwängt, ist der Mensch infiltriert und aufgesogen von Information, ist WAS WIR WISSEN in die Haut eingeschrieben.
Das prozesshafte Arbeiten von Liz Gehrer verdichtet aus einer Fülle von Information ein Konglomerat an Intensität, eine Essenz von Manipulation durch die Medienrealität. Eine Reflexion über die soziale Gemeinschaft und das Individuum ist ihr Anliegen: NÄHE – ABSTAND – Distanz.
Um sich dem allem entziehen zu können, braucht es Flügel – aber WER HAT SCHON FLÜGEL? Vielleicht scheint das aus gehärtetem Transparentpapier gefertigte Wandobjekt mit der titelgebenden Feststellung auf eine gewisse Resignation oder – je nach Betonung – auf die hoffnungsvolle Frage nach erfolgreich mutierten Gliedmassen hinzuweisen. Bei UND WENN SIE HINTER KEINEM GLAS MEHR SIND scheint der Freiheit nichts mehr im Wege zu stehen. Die mehrteilige Bodeninstallation, Umwelteinflüssen wie Wärme und Feuchtigkeit ausgesetzt, verändert sich – für das menschliche Auge vorerst kaum erkennbar – und offenbart erst über die Zeit neue Formen. Manipulationen ohne Ende.
Der Quelle für die Bildinhalte begegnet Liz Gehrer in der Welt der Werbung. Am Anfang ist das Blättern in der Zeitung oder in der Zeitschrift, daraus werden Bilder, Satz- und Wortfragmente isoliert. Schicht um Schicht entstehen in der Technik der Collage neue Bildwelten, die verdichtet eine bildnerische Wirklichkeit entstehen lassen, die Vergangenes mit der Gegenwart verbindet und Zukünftiges erahnen lässt. So auch im zweidimensionalen Werk mit dem Titel SPÄTER MEHR ZEIT, mit dem uns ausserdem das Manipulative unseres Alltags bewusst gemacht wird. Die Zeit tickt unüberhörbar, schreitet unaufhaltsam weiter – der Mensch hält inne, verflüchtigt sich gar und wird doch immer wieder an die verrinnende Zeit erinnert. Subtil arbeitet Liz Gehrer mit Zitaten aus der modernen Welt. Immer wieder stolpert sie über Inserate und Anzeigen, die uns – wie das Doppelbild UNGESCHMINKT – die wahrhaftige Welt zur Schau bringen. Neue Bildrealitäten erzählen vom Ausserordentlichen des Gewöhnlichen, alltägliche und unspektakuläre Momente unseres Daseins werden in einen anderen Kontext gerückt.
…DIE WELT ERKLÄREN will die Künstlerin nicht, auch wenn sie mit der gleichnamigen Wandarbeit die Position in unserer bildgesättigten Welt anspricht.
DRAMATISCHE AUGENBLICKE verheissen uns verführerische Blicke unter mascaragetränkten Wimpern, während im Hintergrund Unheil droht. Mögen uns die Dramen verschont bleiben und geniessen wir die Augenblicke, von denen uns Liz Gehrer viele offenbart – ANDERS ALS WIR MEINEN.
Nadia Veronese, Auszug aus einer Rede vom 23. April 2005 zur Eröffnung der Ausstellung von Liz Gehrer, Bilder und Skulpturen, Schloss Dottenwil b. Wittenbach, Kellergalerie. Nadia Veronese ist angehende Kunsthistorikerin und lebt in St. Gallen.