Unter diesem Titel zeigt die Schweizer Künstlerin Liz Gehrer in ihrer Ausstellung in der Fondazione Hermann Geiger in Cecina neue Arbeiten. Wiederum steht der Mensch im Mittelpunkt. Sie untersucht den Umgang des Menschen mit seiner Umwelt und durchleuchtet das zwischenmenschliche Beziehungsnetz: Wie werden wir von unserer Umgebung geprägt? Ist Freiheit und soziale Nähe gleichzeitig möglich – kann Nähe und Geborgenheit nicht auch Einengung bedeuten? In Beziehungen sind wir emotional und verletzlich, gleichzeitig gewinnen wir daraus Kraft und Stärke. Im Alltag werden wir mit einer Fülle von Nachrichten und Bildern konfrontiert, meist von Katastrophen und Kriegen. Wie gehen wir damit um, mit dieser Gratwanderung aus Anteilnahme, Engagement und Selbstschutz? Wie stellen wir uns dem Altern und der Vergänglichkeit, wenn in Film und Werbung alle Menschen jung, dynamisch und von makelloser Schönheit sind?
Diesen existentiellen Fragen geht Liz Gehrer in ihrem künstlerischen Schaffen nach. Seit vielen Jahren arbeitet und experimentiert sie mit Papier, Altkarton und Eisen. Es sind alles Gebrauchs- und Abfallmaterialien und haben deshalb die idealen Eigenschaften für die Darstellung des Prozesshaften und der Vergänglichkeit. Papier und Karton werden in schmale Streifen gerissen und mit Kleister verleimt. Während dem Trocknungsprozess entwickelt das sich verhärtende Material ungeahnte Kräfte und eine überraschende Eigendynamik – so hat der gehärtete Karton schon Eisenstangen verbogen. Weich und hart – veränderlich und beständig: die künstlerische Umsetzung liefert den Beweis für die Relativität und Umkehrbarkeit von Begriffen. Die unsichtbar wirkenden Kräfte werden sichtbar gemacht mit der Erkenntnis, dass wir nicht alles steuern können.
Liz Gehrers Figuren sind formal stark abstrahiert. Übergrosse Silhouetten, schmal und verletzlich, spiegeln sie das Ausgesetztsein des Menschen in der Welt. Sie weisen die Spuren eines gelebten Lebens auf: keine glatten Oberflächen, sondern Furchen, Risse und Verfärbungen. Einzeln, zu zweit oder in Gruppen stehen sie im Raum – als Klone – auch in Bronze, fast nicht zu unterscheiden von den Kartonfiguren. Eine starke Präsenz geht von diesen Plastiken aus, sie vermitteln ein lebendiges Gefühl von Nähe und Distanz – aber auch von Zwischenräumen und Zwischentönen. Noch anschaulicher zeigt die Rauminstallation Vernetzt – Verstrickt die Ambiguität des sozialen Beziehungsnetzes. Die Menschen aus Karton sind eingewoben in der Gitterstruktur von Armierungseisen. 31 Gitter von je 240 cm Höhe, aber in zwei verschiedenen Breiten stehen in unterschiedlichen Abständen verteilt im Raum, der Weg zwischen ihnen verläuft labyrinthartig und lässt die Figuren in immer neuen Gruppierungen erscheinen. Die Gitter können sowohl als Halt und Struktur gebende Elemente, aber auch als Begrenzung und Enge interpretiert werden.
In ihren Bildcollagen thematisiert Liz Gehrer den Einfluss und die tägliche Bilderflut der Medien. Sie kombiniert Plakat- und Zeitungsausschnitte collageartig mit Malerei. Die Motive wählt sie aus ihrer grossen Sammlung an Bildmaterial, bearbeitet und verfremdet sie. In Mitsehen (II), einer 18-teiligen Arbeit auf Karton, sind die Bildausschnitte stark vergrössert und die einzelnen Motive nur undeutlich erkennbar – wie hinter einem Schleier. Die irritierende, sich wiederholende Struktur der einen Tafel erweist sich bei genauerer Betrachtung als Stacheldraht und dazwischen tauchen Gesichter auf, die das Gezeigte zu beobachten scheinen oder selbst Betroffene sind. Die Verfremdungen schaffen Distanz und schärfen die Wahrnehmung des Blicks. Angesichts des menschlichen Elends weltweit braucht es diesen Schleier, der Distanz schafft. Andererseits darf man sich dieser Realität auch nicht verschliessen und stumm werden, wie in Ich höre das Schweigen (2008, Werbeplane, Acryl). Die Grossaufnahme zeigt das Gesicht eines Models, ihr Mund ist mit einem breiten, schwarz-weiss strukturierten Band zugeklebt. Die Strukturen entpuppen sich als abstrahierte menschliche Silhouetten. Deutlich führt uns Liz Gehrer hier vor Augen: wir sehen und hören, aber wir bleiben stumm – das Elend lässt uns verstummen.
In der Bodeninstallation Feinstaubfilter (6 bis 16-teilig) wird ein ernstes Thema augenzwinkernd umsetzt: Der Mensch reinigt beim Atmungsvorgang die Luft, dadurch wird er zum idealen Feinstaubfilter-Gerät. Die symbolisch zur rein mechanischen Anlage reduzierten Menschen liegen in weissen Ganzkörperlaboranzügen und mit Luft gefüllt als menschliche Feinstaubfilter am Boden. Die «Filter» sind bereits ganz schwarz von den Rückständen des Feinstaubs. Dazu lächelt das ehemals makellose Gesicht eines Models von einem grossformatigen Plakatbild. Über ihrem von den schädlichen Umwelteinflüssen zerknitterten Gesicht legt sich ein feiner (Feinstaub)schleier.
Die 19-teilige Fotoserie Ins Gras beissen entstand aus einer Bodeninstallation zum Thema Jugend, Vergänglichkeit und Tod. Die aus dem Krieg stammende, etwas drastische Redewendung inspirierte Liz Gehrer zu dieser bildhaften Umsetzung. Eine mit vielen kleinen Löchern vorpräparierte Plane – ursprünglich eine grossformatige Werbung für ein Schweizer Modehaus mit dem makellosen Gesicht eines Models – wurde auf dem Rasen im Garten ihres Ateliers verankert. Mit der Zeit wuchs das Gras durch die Einschnitte, das Gesicht des Models begann sich langsam zu verändern und schliesslich zu verschwinden. Es wurde vom Gras völlig überwachsen, im Herbst vom Laub zugedeckt und im Winter vom Schnee.
Liz Gehrer hat den sich über mehrere Monate hinstreckenden Prozess in einer Fotoarbeit dokumentiert und daraus eine 19-teilige Fotoserie gestaltet. Die einzelnen Etappen der Veränderung sind festgehalten, eine Aufzeichnung von Vergänglichkeit. So existentiell und engagiert die dargestellte Thematik zum Denken anregt und herausfordert – die künstlerische Umsetzung bleibt immer hochästhetisch, nicht moralisierend und nicht selten mit Augenzwinkern und feinem Humor. Die zutiefst positive Haltung dahinter ist spürbar und vermittelt wiederum Kraft und Bereitschaft, sich den Einflüssen und Veränderungen aktiv zu stellen.
Marina Schütz, Kunsthistorikerin MA, in: Liz Gehrer, L’uomo fra influssi e cambiamenti, Catalogo realizzato in occasione della mostra alla Fondazione Culturale Hermann Geiger, Cecina, 2011