«Spiel mir das Lied vom Alter» titelt Liz Gehrer eine ihrer Porträtserien – und den gedanklichen Brückenschlag zu Sergio Leones Italowestern aus dem Jahr 1968 kann man durchaus ironisch verstehen, bilden doch alte Videokassetten die filmisch assoziierte Grundlage. Und zeigt, dass das Leben nicht spurlos an uns vorübergeht. In unseren Biografien muss manches geflickt, neu zusammengesetzt werden, sind unsere «Lebenslinien» oft rissig.
«Nichts bleibt wie es ist»: Alles ist im Wandel, der Mensch, die Gesellschaft, die Kultur, die Ansprüche, das «Fühlen», die Zeiten. Stets wird der Mensch durch sein Umfeld, seine Beziehungen und Verstrickungen, das Leben geprägt – vieles ist unausweichlich, manchem können wir uns entziehen.
Liz Gehrer zeigt sich als diskrete Beobachterin dieser Beziehungsnetze, der gesellschaftlichen wie individuellen Erwartungen, der emotionalen Bindungen und zeigt mit ihren Skulpturen, den Installationen, den Bildern letztendlich den Menschen als Bild der Gesellschaft und als Bild in der Gesellschaft: Was sind die Wirkungen und Auswirkungen dieser oft unvermeidlichen Einflüsse? Wie stehen wir zu einander? Wo stehen wir im Leben, wohin geht es für den Menschen? Wie wichtig ist Nähe als sozialer Hafen, wann engt Nähe nur noch ein, wann führt zu viel Distanz zur Vereinsamung – ist dieser «Weissraum» zwischen dem Paar der Grat zwischen Intimität und Beengung? Wo stehen «Menschen unter sich», wo wirkt das Individuum der Gruppe wie in «Tre» oder in «vernetzt und verstrickt»? Bedeuten die Eisengitter der Installationen Stabilität oder gesellschaftliche Zwänge?
«Nichts bleibt wie es ist»: Die St. Gallerin Liz Gehrer will nicht die Welt verbessern oder aufklären. Liz Gehrer ist Künstlerin, die dem Reflektierten bildnerischen Ausdruck verleiht. So subtil wie ihre Wahrnehmung ist, so konzentriert ist auch der gestalterische Prozess, diese Synthese aus Bildfindung und -ausformung, Reflexion und künstlerischer Herausforderung, mit dem an sich einfachen Material die komplexen Geschehen sinnbildhaft auszuschöpfen.
Ihr Material, das ist der Karton, ein «armes» Material, das mit den belebten Strukturen der ideale, weil elementare Bildträger ist. Für die Figuren wird der Karton in Streifen gerissen, mit Kleister gehärtet, Eisenstangen und -rohre bilden das gestalterische Skelett für die in aufwendigen Schritten entstehenden Skulpturen und allegorischen Installationen aus Figur und Eisengittern. Die abschliessende Einfärbung mit Erzpigment lässt die Idee der gelebten Lebensspuren hervortreten. Ein wichtiger Moment hier ist zudem der Trocknungsprozess, entwickelt doch das an sich biegsame, verhärtende Material eine überraschende Kraft und Dynamik, mit der sich sogar schon Eisenstangen verbiegen liessen, und ungeahnt wirkende Kräfte machen sichtbar, dass wir nicht alles steuern können.
Liz Gehrers Figuren sind formal reduziert, mehr schlanke Silhouetten, stark in der Sensibilität, ob als Einzelwesen oder in der Gruppe. Sie sind präsent in ihrer diskreten Ausstrahlung und bespielen das alltägliche Beziehungsnetz und -geflecht im gesellschaftlichen Raum durchaus mehrdeutig – und sind doch eindeutig im Gesamtbild. Karton dient aber auch als Bildträger, wenn sie sich zum Beispiel mit den medialen Bilder- und Nachrichtenfluten auseinandersetzt: Zeitungsausschnitte so stark vergrössert, abgeschliffn und dann zu neuen Momentaufnahmen verknüpft, bis der Ursprung der Geschichten nicht mehr nachvollziehbar, nur noch ahnbar ist.
Ein vielschichtiges Thema ist auch die Frage, was geschieht mit uns, wenn sich das Leben brüchig zeigt, wenn das Altern als natürlicher Prozess im Widerspruch zum allgegenwärtigen Anspruch auf Makellosigkeit, ewige Jugend steht, wie es uns die sozialen Medien, die Werbung vorgaukeln. Wie gehen wir mit den bröckelnden Lebensfassaden um, mit den verblassenden Erinnerungen, wenn das eigene Bild fremd sich gibt? Auch hier greift Liz Gehrer auf vertrautes Bildmaterial aus ihrem Fundus zurück. Die Bilder werden verschliffen, teils manipuliert, teils gerissen und genäht, wie viele «Lebenslinien», wenn nicht mehr alles so genau zusammenpasst. Das Manipulierte zeigt, nichts bleibt so, wie es ist, und dennoch geht es weiter. Selbst das perfekte Model unterliegt dem Einfluss des Lebens, als diffuses, verkratztes Verschwinden des Idealen – und auf eine berührende Art schön.
Auch wenn Liz Gehrers formale Ausgestaltung künstlerisch ästhetisch bleibt, so regt sie doch an, über die Lebensgeflechte nachzudenken. Manchmal mit leiser Ironie in den dezenten Anspielungen.
Buhrfeind Eva anlässlich der Ausstellung in der Galerie Artesol, Solothurn 28.10. – 18.11.2017