Als Liz Gehrer für sich den Werkstoff Karton entdeckte, war es Liebe auf den ersten Blick. Nun ist in vielen Jahren daraus so etwas wie eine Ehe geworden. Das Verhältnis bleibt spannend, sie entdeckt noch immer neue, ungewöhnliche Facetten des Materials, wobei sie oft überrascht werden kann, geht doch das befruchtende und inspirierende Moment durchaus auch vom «Partner», vom Werkstoff, aus.
Papier, Pappe, Karton gehören zu den so genannten «armen» Materialien, sie wurden erst spät als eigenständige Medien der Kunst entdeckt – für plastische Arbeiten ist der leichte, fragile, verletzliche Werkstoff sogar erst seit etwa 25 Jahren gebräuchlich. Wellpappe, also Industriepapier, möglichst in gebrauchtem Zustand, wie es die Künstlerin verwendet, steht sowohl für Naturbewusstsein, Umweltschutz und Recycling als auch für die Hinwendung zu Ethnologie und Archäologie. Dass Liz Gehrer dann diesem «Abfall» anthropomorphe Formen abringt, macht ihre Arbeiten so einmalig.
Waren es anfänglich schmale, überlange stehende Figuren, die sich aneinander drängten, auseinander strebten oder sich zu Paaren und Gruppen formierten, so hat sie nun – und dies wurde in Österreich erstmals gezeigt – die «kleinen Sitzenden» entwickelt, ein neues Thema, das sie noch lange beschäftigen wird. Die Figürchen von nur ca. 30 cm Höhe sitzen in Gruppen auf hohen Sockeln, wobei der Sockel hier nicht nur Präsentationsfläche ist, sondern wichtiger Bestandteil der Skulptur. Inspirationsquelle war und ist für sie das Beobachten der Landbewohner in Italien. Während der warmen Jahreszeit wird dort vor allem gesessen: nach der Arbeit vor dem Haus, Männer sitzen in Bars, Frauen und Kinder sitzen beim Brunnen, auf Bänken, auf Stufen, auf Mäuerchen. Man kann von der Haltung der Personen Status, Befindlichkeit, Harmonie oder Isolation ablesen. Das menschliche Miteinander, das immer schon Triebfeder des Gestaltungswillens der Künstlerin war – hier findet es in Haltung und Gestus seinen Ausdruck.
Wie bei den großen Figuren reagiert auch bei den kleinen Sitzenden das Papier, das mit Kleister getränkt ist, doch in diesem Fall mit verminderter Heftigkeit. Beim Trocknen entstehen Risse, Schrunden und Vertiefungen. Bisweilen gelingt es dem arbeitenden Industriepapier sogar, während des Trocknungsprozesses die stabilisierenden Draht- oder Eisenstäbe zu verformen. Die Künstlerin weiß aus Erfahrung, wie ihr Material reagiert, doch manche Figur kann dennoch eine ursprünglich nicht intendierte Haltung einnehmen, so dass man meinen könnte, gelegentlich sei der Zufall neben der Künstlerin und dem Arbeitsmaterial als dritte Kraft in den Arbeitsprozess eingebunden.
Was die Oberflächenbehandlung ihrer Werke angeht, so ist sie fasziniert von den brachliegenden Hängen und den Gesteinsformationen der Toskana, die ihre Entsprechung in den wettergegerbten Gesichtern der Landbevölkerung haben. Wie Wind und Regen, Arbeit und Kummer die glatten Oberflächen mit Runzeln und Schrunden überziehen, so tut die Künstlerin ihren Skulpturen Gewalt an und haucht ihnen damit Leben ein. Manche erinnern an die grauen und spitzigen Figuren von Federico Tozzi, der in seinen Romanen und Erzählungen ein ziemlich düsteres Bild der ländlichen Toskana zu Anfang des 20. Jahrhunderts entworfen hat.
Elfriede Bruckmeier, Auszug aus einer Rede zu einer Ausstellung in Wien, Okt. 2002. Elfriede Bruckmeier wohnt in Eichgraben b. Wien. Sie ist Publizistin und Mitglied des österreichischen Kulturinitiativenbeirates