Man kann an den Skulpturen von Liz Gehrer nicht achtlos vorbeigehen.
Beinahe wäre es mir gelungen, als ich ihnen zum ersten Mal begegnete, im Atelier des toskanischen Hauses der Gehrers. Ich war bei ihnen wieder einmal zu Besuch und äusserte den Wunsch, ein paar Arbeiten von Liz Gehrer anschauen zu dürfen. Ich war neugierig.
Ich kannte den kühlen Sinn für Schönheit und Perfektion, den die Innen- und Aussenräume des Gehrerschen Sitzes in Montepulciano atmen, ebenbürtig der Gastfreundschaft ihrer Bewohner. Ich kannte Liz Gehrer, deren kontrollierte Eleganz mit natürlichem Charme wetteifert, wenn sie bestimmt, knapp, klar ins Plätschern eines Gesprächs eingreift, ihren Standpunkt mit selbstverständlichem Eigengewicht neben den ihres Mannes stellt oder mit einem Lächeln und nicht ohne Witz eine verbale Balgerei ihrer Kinder schlichtet.
Ich war also nicht ohne Vorurteil über das künstlerische Gewicht ihrer bildenden Arbeit. «Von wem ist das?», hätte ich beinahe gefragt, als ihr Mann auf eine Skulptur zeigte, die beim ersten Blick wie eine Art Metall-Relief, Bronze etwa, wirkte, sich bei genauer Prüfung aber als Karton-Gebilde entpuppte, auf dem menschliche Silhouetten erkennbar waren. Ich hatte graphisch durchstrukturierte Werke von Schönheit und Eleganz erwartet, von ästhetischer Perfektion und kompositorischer Strenge. Statt dessen überlebensgrosse, gesichts- und armlose Gestalten aus gehärtetem Karton oder grauem Zement, erstere für Innenräume geschaffen, alleinstehend oder im Verband, letztere bevorzugt in Gruppen von zwei oder drei im Freien beieinanderstehend und dem Garten den Zauber der Unschuld raubend.
Meine erste innere Reaktion war Betroffenheit, von einer vorerst nicht definierten Wirklichkeit getroffen, aus der Bahn belanglosen Alltags geworfen, auf den Weg einer unentrinnbaren Realität gestossen. Inzwischen habe ich Gelegenheit gehabt, Liz Gehrers Werke zu umkreisen, einzukreisen, mich ihnen in stummem Dialog zu nähern: ein Figurenpaar befindet sich seit letzten Sommer mitten im Olivenhain von Celidonia.
Ich nehme wahr: übergrosse, überschlanke menschliche Silhouetten, jede bis zur Starrheit eingepackt, eingemauert, festgefroren. Sie haben kein Gesicht, keine Arme, keine Beine, könnten stumme Mahnmale modernen Schreckens sein und lassen solche Gedanken doch nicht aufkommen. Denn in all ihrer Starrheit leben sie, schauen Dich und einander augenlos an, treten in eine rhythmische Beziehung, die durchaus ein Tanz werden kann, wenn Du sie umschreitest.
Wofür sind sie mir Chiffre? Für die Tragödie der menschlichen Person, die nur in der Gemeinschaft denkbar und doch nur in der Vereinzelung lebbar ist. Für die wesensinnere Kommunikationsunfähigkeit des Menschen der im Tanz des Lebens letztlich immer gesichts- und sprachlos sowie berührungsunfähig bleibt, ausser vielleicht in jenen seltenen Augenblicken, da das Eis schmilzt, der Panzer aufspringt, die Verpackung abfällt. Für eine Zeit, in der wir mitten im Blühen des Gartens stumm und grau stehen, orientierungslos, armlos, hilflos unseren einsamen Reigen tanzend.
Ich hatte damals, in ihrem Atelier, Liz Gehrer auf die feinen Haarrisse aufmerksam gemacht, die sich bei genauem Hinsehen in ihren ersten Zementskulpturen fanden, und gemeint, es wäre wohl klug sie nicht der Witterung auszusetzen oder vorher wenigstens mit Kunststoff zu schützen. «Nein», antwortete sie. «Wenn sie sich bei Regen, Kälte und Eis zersetzen, ist das auch gut. Ich bin gespannt darauf, was mit ihnen in den nächsten Jahren geschieht.» Werden sie auch Parabeln der menschlichen Endlichkeit werden?
Paul O. Pfister, Publizist, Chiusdino (Siena), im Januar 1994